Ich will alles raus lassen.
Alles, was sich in den letzten Jahren in mir aufstaute:
Den Tod meiner Mutter bei meiner Geburt, den Autounfall meines Vaters, er lag ein Monat lang im Koma bis er starb. Sein Tod ist der Grund, weshalb mein Bruder und ich im Kinderheim landeten und mein Bruder drogenabhängig wurde. Und jetzt sein Tod aufgrund einer Überdosis.
Wieviel kann einem einzelnen Menschen genommen werden? Ich glaube nicht, dass mir noch etwas genommen werden kann. Ich bin am Boden, ich habe absolut gar nichts mehr. Ich bin allein und ohne Familie. Ich sitze auf meinem Baum in dem Kinderheim, in dem ich die letzten zwei Jahre mit meinem Bruder verbrachte. Man beschloss, mich in eine Familie zu bringen, die mir helfen sollte, über meine Verluste hinweg zu kommen. Aber wie soll jemand jemals über solche Verluste hinweg kommen?
Meine Sachen waren jedenfalls gepackt. Das war meine letzte Nacht im Kinderheim und das letzte Mal, dass ich mich aus dem Haus schlich, um auf den Baum zu klettern. Letzte Woche starb mein Bruder und heute war mein Geburtstag. Mein fünfzehnter Geburtstag.
Ich wollte nicht gehen. Hier hatte ich zumindest jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich wollte ihn nicht auch noch verlieren. Joshua war alles, was ich noch hatte und morgen würde ich auch ihn verlieren. Ich konnte mich nicht einmal verabschieden, da er während der Woche bei seiner Mutter und nur am Wochenende bei seinem Vater war. Sein Vater war der Direktor des Kinderheims und er brachte seinen Sohn immer hierher. Joshua strahlte immer, vor allem seine Augen, und das obwohl seine Eltern getrennt waren. Er sagte immer: ”Manchmal geht es nicht mehr und es ist besser auseinander zu gehen, als an etwas fest zu halten, das nicht funktioniert.“
Acht Jahre später…
Ich schlichtete die Bücher zurück in die Regale, wo sie hingehörten. Ich nahm ein Buch und wollte es zurückstellen, doch der Titel sprang mir ins Auge. “Depression”! Ich drehte das Buch um und las die Inhaltsangabe. “Viele Menschen fallen manchmal in ein tiefes Loch namens Depression, aber schaffen es nicht mehr hinaus. Wie entstehen Depressionen? Wie schafft man es, wieder aus dem Loch zu kommen? An wen soll man sich wenden? Vielleicht kann ich ein bisschen helfen.”
Ich war in diesem schwarzen, einsamen Loch. Ich bin noch nicht draußen, aber ich beginne, Licht zu sehen. Als ich vor acht Jahren bei meiner neuen Familie ankam, aß ich eine Woche lang nichts und redete mit niemandem. Dann versuchte ich mich umzubringen. Anschließend wurde alles versucht, um mich zurück auf die Beine zu stellen. Es folgte ein Jahr des Kampfes. Schmerzen, Tränen und Wutausbrüche hielten alle auf Trab. Ich kann wirklich nicht sagen, dass meine neue Familie nicht für mich da war. Sie haben alles getan, was in ihrer Macht stand und was kann ich sagen? Sie bekamen mich irgendwie wieder hin. So gut sie eben konnten. Am Anfang hatte ich ziemliche Probleme, vor allem mit meinem neuen Bruder. Nico erinnerte mich zu sehr an meinen echten Bruder. Am Ende war er allerdings derjenige, der mir am meisten bedeutet. Wenn ich Probleme habe, gehe ich zu ihm und ich kann mir sicher sein, dass er mir zuhören wird, sogar wenn er eigentlich in seiner Anwaltskanzlei gebraucht wurde. Er wird mir zuhören und mich dann in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles wieder gut wird. Ich liebe ihn. Er ist der beste zweite Bruder den man haben kann. Aber auch meine neue Schwester Alicia war immer für mich da und wir haben die typischen Mädchensachen zusammen gemacht. Ich lebe mittlerweile in meinem eigenen kleinen Appartement, aber sehe Alicia und Nico so oft wie möglich.
Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Buch. Wer hatte es ausgeborgt? Warum? Hatte die Person Depressionen oder vielleicht ein Familienmitglied oder ein Freund dieser Person? Diese Fragen ließen mich nicht mehr los. Ich lief zu einem der Computer an der Ausborgestation in der riesigen Bücherei und suchte nach der letzten Person, die dieses Buch ausgeborgt hatte. Als ich den Namen las, hielt ich inne. Joshua Dobler!
“Ehm… Entschuldigung, ich würde gern dieses Buch ausborgen.” Ich sah auf. Vor mir stand ein junger Mann, ein junger Mann dessen Gesicht mir nur zu bekannt vorkam. Diese dunkelblauen Augen, die in der Nacht schwarz wirkten, die einzigen Augen, die mich jemals auf dem Baum sahen. Seine wuscheligen, dunkelblonden Haare, wie immer nicht gekämmt. Ich sah ihn lange an und bemerkte eine Kleinigkeit, die anders war. Seine Augen… Ja, sie waren noch immer dunkelblau, aber sie waren traurig. Seine Augen waren nie traurig, sie strahlten immer. Er war so ein glücklicher Mensch. Was war passiert? Er räusperte sich, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Ich kann mich noch erinnern, wie er das auch früher immer machte. Aufgrund seiner Unsicherheit fuhr er mit seiner linke Hand durch sein Haar… so wie früher. Ich musste lächeln bei den Gedanken an früher. “Ein anderes Buch über Depressionen?” fragte ich. Er starrte mich verwirrt an. Mein Lächeln verschwand. “Was ist passiert, Joshua?” Ich konnte sehen wie er versuchte herauszufinden, woher wir uns kannten und wie ihm nach einigen Sekunden ein Licht aufging. “Sianca?” Ich ging um die Theke zwischen uns und nahm ihn in den Arm, während er zu weinen begann und seine Arme um mich schlang. Ich wusste noch genau wie es sich anfühlte von ihm in den Arm genommen zu werden. Er war noch immer sehr viel größer als ich es war. Er vergrub seinen Kopf in meinen Haaren. “Was ist passiert?” fragte ich noch einmal. “Zu viel. Aber zumindest siehst du besser aus als das letzte Mal, als ich dich gesehen habe.” Er drückte mich enger an sich. “Ich wünschte, du wärst da gewesen. Ich hätte dich gebraucht.” “Und ich dich.” Ich küsste seine Wange. “Jetzt können wir für einander da sein.” Ich hatte mittlerweile auch zu weinen begonnen.
Fünf Jahre später…
“Joshua, komm‘ jetzt endlich oder wir kommen zu spät!” “Bin schon da!” rief er und stand plötzlich hinter mir. Er grinste breit und seine Augen warfen mir einen geheimnisvollen Blick zu. “Was?” fragte ich schmunzelnd. “Nichts.” sagte er schulterzuckend. Er kam auf mich zu und schlang seinen rechten Arm um meine Hüfte und zog mich an sich. “Ich bin nur glücklich, dass wir wieder vereint sind.” “Ja, und das jetzt schon fünf Jahre lang.” erinnerte ich ihn. Seine Lippen näherten sich den meinen und er küsste mich zärtlich. Als er seine Lippen wieder von meinen löste sagte er: ”Und hoffentlich noch eine Ewigkeit länger.” Er lächelte mich an und ich zurück. Dann erinnerte ich mich an das Weihnachtsfest meiner Eltern, für das wir schon eine halbe Stunde zu spät dran waren. “Schnell, schnell, wir müssen los. Joshua begann wieder zu grinsen. Er schnappte sich die Geschenke, drückte mir noch einen Kuss auf meine linke Wange und wir waren am Weg zu meinen Eltern.
“Oh, hallo Sianca, meine Süße, wie geht es dir?” “Gut, Mum.” Sie nahm mich in den Arm und dann drückte sie auch Joshua an sich. Mein Vater kam und umarmte uns beide, anschließend meine Schwester Alicia und ihr Verlobter und zum Schluss Nico. Nico ging zuerst zu Joshua und klopfte ihm auf die Schulter. Die beiden waren richtige Kumpels geworden. Dann kam er zu mir und drückte mich ganz fest an sich. Wir hatten uns schon länger nicht mehr gesehen. Wir beide hatten viel zu tun, Joshua und ich verwirklichten unseren gemeinsamen Traum. Nico heiratete und hatte bereits seine Hochzeitsreise nach Mallorca hinter sich. Danach musste er sich um Firma, Frau und Kinder kümmern. Er hatte zweieiige Zwillinge, zwei Jahre alt. Sie blieben allerdings heute zu Hause, da sie beide krank waren und seine Frau musste sich um die beiden kümmern. Auch Alicia hatte begonnen eine Familie zu gründen. Sie war verlobt und im vierten Monat schwanger. Sie wollte allerdings, dass ihr Kind Teil ihrer Hochzeit war. Joshua und ich hatten beschlossen, dass wir vorerst nicht heiraten wollten. Er hatte Angst davor, dass wir uns wie seine Eltern trennten. Und ich hatte Angst davor Kinder zu bekommen, wegen der Dinge, die ich erlebt hatte und auch Joshua bevorzugte es, keine Kinder zu bekommen. Wir waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Unsere Beziehung war perfekt. Mehr als nur perfekt, es war alles, was wir brauchten. Wir heilten uns gegenseitig.
Joshua wurde in der Schule gemobbt und hatte mir nie davon erzählt. Nachdem er die Schule abschloss, landete er in einem Büro. Buchhaltung, er hasste Buchhaltung. Joshua wollte schon immer mehr Freiheit und etwas Außergewöhnliches, Neues. Sein Boss überhäufte ihn mit Arbeit und irgendwann war er einfach nur noch unglücklich. Aber er war nicht mutig genug, seinen Traum, nein, unseren Traum zu verwirklichen, da ihm jeder sagte, das es nicht funktionieren würde. Jetzt hatte er mich und ich würde ihm nie sagen, dass sein Traum unmöglich war, denn das war er nicht und das haben wir jetzt allen bewiesen.
Wir saßen alle zusammen am Tisch und aßen unser Mittagsessen. Gemüserisotto, unsere Lieblingsspeise. Wir redeten über die Hochzeit und das Kind von Alicia, Nicos Familie und über die Zukunft von Joshua und mir. Ich wusste, dass meine Eltern wollten das wir heiraten, auch wenn sie verstanden, dass wir durch unsere Erfahrungen einfach vorsichtiger sein wollten. Als sie wieder einmal begannen darüber zu reden, lenkte Joshua das Thema zu dem Waisenhaus, in dem ich zwei Jahre lebte und er quasi aufwuchs. Wir hatten, seit Joshua und ich zusammen gekommen waren, eine neue Weihnachtstradition. Jedes Jahr fuhren wir zu dem Waisenhaus und teilten Geschenke aus, brachten selbstgebackene Weihnachtskekse mit und spielten Spiele mit den Kindern. Er fragte, wann wir aufbrechen würden, da er es kaum noch erwarten konnte. Meine Mutter antwortete wir würden, nachdem wir unsere Geschenke übergeben haben, aufbrechen. Er nickte und begann über das eine Mädchen im Waisenhaus zu reden, das uns beide sehr mochte und sich jedes Mal freute, wenn wir sie besuchen kamen. Ihr Name war Xaria und wir konnten es beide kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Xaria wurde vor die Tür des Waisenhauses gelegt, man kannte ihre Eltern nicht.
Wir überreichten uns unsere Geschenke, umarmten uns gegenseitig und erklärten unsere Geschenkideen. Sobald alles geklärt war, stieg jeder in sein Auto und wir waren am Weg zu Joshuas und meinem alten zuhause.
Xaria war die erste, die uns begrüßte, dann kamen all die anderen. Sogar Darian, ein fünfzehnjähriger Junge, der immer angefressen war und keine Lust auf irgendetwas hatte, kam auf uns zu, begrüßte uns und bat seine Hilfe bei der Organisation an. Auch Joshuas Vater begrüßte uns und nahm mich und Joshua in den Arm.
Wir hatten einen wunderschönen Nachmittag im Kinderheim und die Kinder hatten viel Spaß mit den Geschenken und den Spielen, die wir uns ausgedacht hatten. Als es spät wurde, lasen meine Eltern ihnen eine Weihnachtsgeschichte vor und brachten die Kinder ins Bett. Joshua nahm mich zur Seite und meinte: ”Ich will zu unserem Baum gehen!” Ich nickte und wir schlichen uns davon, so als wären wir noch Kinder, denen es nicht erlaubt war, auf den Baum zu klettern. Wir kletterten zu dem Ast, auf dem wir auch schon früher gesessen waren, setzten uns nebeneinander und betrachteten den Sternenhimmel. Wir redeten über all das, was in den letzten Jahren so passiert war und über den gemeinsamen Traum, den wir uns erfüllt haben. Der Traum eines Büchercafes. Bücherei und Kaffeehaus in einem. Wir hatten eine Menge Spaß. Ich in der Bücherei, er im Cafe und Alicias Verlobter, Axel, der unser bester Freund ist, der sich um die Buchhaltung kümmerte. Und natürlich darüber, wie wir Axel Alicia vorstellten. Joshua legte seinen rechten Arm um meine Schulter. In seiner Hand hielt er eine kleine grüne Box. Er öffnete sie mit seinem Daumen. “Ich weiß, ich habe immer gesagt, dass ich nicht bereit bin jemanden zu heiraten, obwohl ich dich über alles liebe. Aber ich habe diesen Ring gesehen und er hat mir zugeflüstert, dass es Zeit wird. Sianca, willst du mich heiraten, denn vereint sind wir einfach weniger allein.” Vereint sind wir einfach weniger allein…
Das sagte er zu mir, als wir Kinder waren und uns zum ersten Mal gemeinsam aus dem Haus schlichen. Ich lächelte ihn an. ”Ja, ich will!” sagte ich und er steckte den Ring an meinen Ringfinger der linken Hand. Der Ring war bronzefarben und bestand aus lauter kleinen Blättern. Wir beide liebten den Herbst, daher liebte ich den Ring sofort. Wir küssten uns.
2 Jahre später…
“Xaria, komm endlich! Du kommst sonst zu spät zu deinem ersten Schultag.” rief Joshua durch unser Appartement während ich noch damit beschäftigt war, ihre Schultüte fertig zu packen. Sie kam die Stufen herunter gelaufen, als ich die Schultüte gerade verschloss. Ich kam ins Vorzimmer um Xaria die Schultüte zu überreichen. Sie strahlte uns an, in ihrem violetten Kleid, das wir ihr für ihren ersten Schultag kauften. Als sie die Schultüte sah, quiekte sie vor Freude und nahm sie an sich.
Ich hatte noch immer ein bisschen Angst davor eine Mutter zu sein, aber mit Joshua an meiner Seite und all den schönen Momenten als Eltern, vergesse ich diese Angst meistens.
Joshua hatte seinen rechten Arm um meine Schulter gelegt und wir sahen zu, wie Xaria in ihrer Klasse verschwand. Wir sahen uns lächelnd an und küssten uns. Alles war perfekt! Mehr als nur perfekt. Es war genauso, wie wir uns es erträumt hatten. Wenn nicht sogar besser!