Ich bin Levin, schon alt, meine besten Tage sind lange vorbei. Ich hatte eigentlich auch kaum gute Tage. Wobei… doch, da gab es einen längeren Zeitraum, in dem ich der glücklichste Mensch auf der Erde war. Luna, so hieß sie, das Mädchen, das mein Leben wieder auf Touren brachte, nachdem mein Vater gestorben war. Da war ich 11 Jahre alt.
Ich will euch die Geschichte von dem Mädchen mit den träumerisch grünen Augen erzählen. Unsere erste Begegnung war in der zweiten Klasse Mittelschule.
Ich betrat die Klasse, viele starrten mich mit offenem Mund an, andere lachten. Es tat weh, die anderen über mich lästern zu hören. Aber eine Person viel mir besonders auf! Nicht, weil sie am lautesten lachte, sondern weil sie mich fröhlich anstrahlte. Ich konnte nicht aufhören dieses Mädchen anzustarren. Ich hatte noch nie ein so aufrichtiges und schönes Lächeln gesehen. WOW!
Auch ihre grünen Augen strahlten wie eine saftige Sommerwiese. Mir schien, als wäre ihr ganzer Körper von diesem Strahlen umgeben.
Sie trug ein strahlend weißes Kleid mit Blumenmuster. Ihre Haare waren mit einer Schleife zusammengebunden.
Die Lehrerin, die mit mir in die Klasse kam, hatte mich inzwischen vorgestellt, da ich ihrer Aufforderung mich selbst vorzustellen, nicht nachgegangen war. Nun zeigte sie auf einen freien Platz direkt hinter diesem Mädchen. Neben dem mir zugewiesenen Platz saß bereits ein anderes Mädchen. Ihr gefielen meine eisblauen Augen, die schwarzen langen Haare, die auf der einen Seite abrasiert waren, das schwarze Hemd mit den Fledermausärmeln, die aus meinem bodenlangen Mantel herausragten. Die schwarze Hose mit den vielen Nieten und die Punkstiefel offenbar nicht, was sie mir mit einem abschätzigen Blick zu verstehen gab.
Ich starrte die ganze Stunde wie hypnotisiert auf das Mädchen vor mir. Immer wenn die Lehrerin versuchte Luna, so hieß dieses strahlende Mädchen offensichtlich, in den Unterricht einzubauen, schien es, als wäre Luna in ihrer eigenen Welt. Als es dann läutete, schaffte ich es nur schwer meinen Blick von ihr abzuwenden. Sie nahm mir diese Aufgabe ab, als sie aufstand und die Klasse alleine verließ. Erst da fiel mir auf, mit welchen verächtlichen Blicken Luna bedacht wurde. Schließlich verließ auch ich die Klasse um meinen Spind zu finden.
Als ich ihn fand und aufsperrte, um ein paar meiner Sachen darin zu versperren, tauchte plötzlich jemand neben mir auf: „Hey, ich bin Luna“ sagte sie und hielt mir ihre zarte Hand hin. Sie lächelte mich noch immer so warmherzig an. Ich nahm ihre Hand ganz vorsichtig, da sie unheimlich zerbrechlich wirkte und sagte so leise, als wäre es ein Geheimnis:“Ich bin Levin.“ Mit einem immer breiter werdenden Lächeln sagte sie darauf:“Mir gefallen deine Stiefel, die sind echt cool und dieser Mantel. So stelle ich mir Vampire vor. Weißt du, ich finde Vampire echt toll. Und dein Hemd erinnert mich an das eines Piraten.“ Vampir…Pirat? So nannte mich meine Mutter auch immer, wenn sie mich bat, mir anständige Klamotten zu besorgen. Sofort wurde mir klar, warum alle so ablehnend auf Luna reagierten. Sie war eine Träumerin. Sie bekam kaum etwas aus der Realität mit, da sie in ihrem eigenen Märchenreich lebte. Ich mochte es, weil es sie besonders machte. Heutzutage war das echt selten geworden. Da wurde mir bewusst, dass ich noch immer ihre Hand in meiner hielt. Überstürzt ließ ich sie los und lächelte sie verlegen an.
Das war unsere erste Begegnung. Ihre wundervollen Augen und ihr Gerede von Piraten und Vampiren zog mich sofort in ihren Bann. Sie erzählte auch von Prinzessinnen und Prinzen und von vielen anderen Märchengestalten. Von da an waren wir unzertrennliche Freunde. Ich lauschte gerne ihren fantasievollen Geschichten und sie gab mir Tipps für einen lebensfreudigeren Kleidungsstil. Sie überredete mich auch dazu, meine langen Haare auf die selbe Länge wie die linke Seite zu rasieren. Aber wehe, ich zog den „Vampirmantel“ aus, wie sie meinen bodenlangen Mantel nannte. So überlebten wir irgendwie die Mittelschule. Man ignorierte uns größtenteils oder lachte heimlich über uns. Doch solange wir zusammen waren, war uns alles egal.
Ich meldete mich für das selbe Gymnasium an wie Luna. Ich wollte unbedingt bei ihr sein. Am besten für immer.
Wir standen, unsere Hände ineinander verschränkt, vor unserer zukünftigen Klasse. „Was wünscht du dir von unserer neuen Klasse“ flüsterte Luna und starrte dabei auf die offene Tür. „Ich wünsche mir nur, das wir ewig zusammen bleiben und unsere Freundschaft niemals endet.“ sagte ich ebenfalls flüsternd. „Wünscht du dir gar nicht, dass wir diesmal respektiert werden?“ fragte sie mit einem schüchternen Lächeln. Mir wurde klar, dass es ihr doch etwas ausmachte, von allen so achtlos behandelt zu werden. Ich dachte, sie bekäme es kaum mit. Da kam mir in den Sinn, dass sie viel seltener von ihren Märchenwelten erzählte. Sie durfte ihre Märchenwelt auf gar keinen Fall jemals vergessen! Ich beugte mich zu ihr herunter und hauchte in ihr Ohr:“Ich brauche nur dich.“ Sie drehte ihren Kopf zu mir und sah mich für einen Moment schweigend und ernst an. „Du hast recht.“ hauchte sie schließlich zurück. „Wir brauchen nur uns.“ Ihre Lippen formten sich wieder zu ihrem wunderschönen Lächeln und ihre grünen Augen begannen wieder zu strahlen. Unsere Hände noch immer ineinander verschränkt, betraten wir gemeinsam die neue Klasse.
Freunde hatten wir nicht gefunden. Die Jungs waren sich zu cool und die Mädchen zu schön. Keiner sah die Welt so, wie wir. Man erklärte uns eher für verrückt. Das traf Luna härter als ich dachte. Ich hoffte so stark, ich würde ihr reichen, dass wir zwei die Welt für uns erobern könnten.
„Guten Tag, Miss Weiss.“ sagte ich nachdem Lunas Mutter die Tür öffnete. „Hallo, Levin. Ich nehme an, du möchtest zu Luna?“ „Ja, richtig.“ Sie machte mir den Weg frei, damit ich an ihr vorbei hinauf zu Luna konnte. An Lunas Zimmertür angekommen musste ich feststellen, dass sie abgeschlossen war. Ich konnte ein leises Schluchzen aus dem Inneren ihres Zimmers vernehmen. „Luna, mach‘ bitte die Tür auf. Ich bin’s, Levin.“ Ich hörte leise Schritte auf die Tür zukommen und dann den Schlüssel im Schloss umdrehen. Da stand sie vor mir, ihr Gesicht total verheult und nichts mehr träumerisches in ihren wundervollen, grünen Augen. Sie fiel mir um den Hals und weinte mein T-Shirt nass, bis sie sich irgendwann fing und mit stockender Stimme sagte:“Tu… tut mir l… leid das i…ich nicht zu zur Sch… Schule gekommen b…b…bin.“ „Ist schon okay.“ flüsterte ich ihr zu, während ich sie fest an mich drückte und zärtlich durch ihre Haare strich.
Lunas Eltern trennten sich, da ihre Mutter eine Affäre begonnen hatte. Diese Affäre sollte auch sofort ihren Vater ersetzen. Und nur nach langem Flehen und Betteln durfte Luna am Wochenende zu ihrem echten Vater. Deswegen sah ich sie nur noch während der Woche in der Schule.
„Schau, wen wir da haben, die verrückte Luna. Wo hast du denn deinen Vampir gelassen?“ sagten sie, erzählte mir Luna. „Und dann haben sie dich geschlagen“ sagte ich, was aufgrund des Veilchens um ihr schönes, grünes Auge nicht schwer zu erkennen war. Sie nickte. Ich legte meinen Arm um sie und sie ließ ihren Kopf auf meine Schulter sinken. Wir saßen auf einer Parkbank in unserem Lieblingspark. „Findest du nicht auch, dass ich mich gebessert habe? Ich meine, ich habe versucht, nicht mehr an meine Märchenwelt zu denken oder gar von ihr zu erzählen. Warum halten sie mich aber dann noch immer für verrückt?“ fragte sie traurig. „Was redest du da?“ sagte ich entsetzt „Diese Fantasie macht dich aus. Das bist du. Und du darfst dich auf gar keinen Fall für irgendjemanden verändern. Ich liebe das so an dir. Bitte hör nicht auf in deiner Märchenwelt zu leben, bitte.“ flehte ich sie mit Tränen in den Augen an.
Meine Worte und die Tränen waren wirkungsvoll. Zumindest für einen kurzen Zeitraum hat sie wieder von ihren Märchengeschichten erzählt. Bis an diesen einen Abend.
Es klingelte an der Haustür. Es war schon acht Uhr und ich wunderte mich, wer es sein könnte. Ich öffnete die Tür und vor mir stand eine komplett aufgelöste Luna. Anstelle eines bunten Kleides oder zumindest irgendetwas anderem Bunten, trug sie schwarze Jeans, Sneakers und einen schwarzen Hoodie, die Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen. „Kann ich bei dir übernachten?“ fragte sie verzweifelt. „Ja, klar. Komm rein.“ Sie betrat das Vorzimmer und meine Mutter begrüßte sie mit dem üblichem:“Hallo, Süße. Schön, das du wiedermal hier bist“. „Sie kann eh hier übernachten?“ stellte ich die Frage. An Luna gewandt sagte meine Mutter:“Klar, Süße. Bleib‘ solange du willst!“ „Danke, Gerlinde.“ rief Luna in die Küche und ich konnte Erleichterung in ihrer Stimme hören. In meinem Zimmer zog ich sofort das Bett aus, sodass aus meinem Einzelbett ein Doppelbett wurde. Währenddessen fragte ich Luna:“Was ist passiert?“ Sie schluchzte einmal kurz auf und sagte dann:“Die Affäre von meiner Mutter hatte mal wieder einen seiner Wutausbrüche.“ Jetzt nahm sie die Kapuze ab und darunter kam eine Platzwunde über ihrem rechten Auge zum Vorschein. Ich nahm sie bei der Hand und zog sie ins Badezimmer. Ich wusch ihr mit einem nassen Tuch das Blut aus dem Gesicht. Ich rief auch meine Mutter, die einen Blick auf ihre Wunde warf:“Das sieht nicht so schlimm aus, das wird schon wieder.“ meinte sie und ließ uns wieder alleine. Sie fragte nicht woher Luna die Wunde hatte, da sie es wusste und sie wusste auch, dass Luna nicht darüber reden wollte.
Wir legten uns nebeneinander in mein Bett und ich nahm sie in meinen Arm. Ich drückte sie so eng an mich, das ich kurzzeitig dachte, ich würde sie vielleicht erdrücken. Doch als ich meinen Arm etwas lockerte, schmiegte sie sich noch enger an mich. Weshalb ich den Druck wieder verstärkte und ihre Haare küsste.
So schliefen wir die ganze Nacht fest ineinander verschlungen. Von da an erzählte sie nie wieder ihre Märchengeschichten. Ich sagte ihr so oft, das es mir fehlte, aber darauf meinte sie immer nur, sie müsse langsam erwachsen werden. Ich versuchte oft ihr zu erklären, dass sie, auch wenn sie erwachsen ist, von Fabelwesen träumen dürfe, aber sie sah das anders. Es tat mir weh, sie so zu sehen. Vor allem hatte ich mich doch in die fantasievolle Luna verliebt. Ja, ich liebte sie und wie ich sie geliebt habe, sie war alles für mich. Ich kämpfte so hart, um sie wieder zurück zu bekommen. Doch sie ist nie mehr wieder wirklich zurückgekehrt. Die Luna, in die ich mich verliebt hatte, gab es nicht mehr.
Nebeneinander gingen wir unserer Klasse hinterher. Bald waren Ferien und dann hatten wir auch die 7. Klasse hinter uns. Heute war Wandertag.
Luna und ich redeten nicht mehr viel miteinander. Ich durfte sie auch nicht mehr besuchen kommen wegen ihres neuen Vaters. Unsere Freundschaft begann zu bröckeln. Ich hasste es, dass wir nicht mehr redeten, ich hielt es kaum mehr aus. Ich schlief in der Nacht nicht mehr, ich überlegte wie ich sie zurück bekam.
Oben am Berg breiteten alle ihre Picknickdecken aus, ich tat es ihnen gleich. Nur Luna stand am Rande des Abgrundes und starrte hinab. Ich ging zu ihr und nahm ihre Hand:“Wir können gemeinsam springen“ hörte ich mich von weiter Ferne flüstern. „Ich glaube, ich kann das nicht“ flüsterte Luna zurück. „Ist mir sowieso lieber“ sagte ich zu ihr. „Ich könnte es auch nicht.“
Ich habe gemerkt wie sie immer öfter daran dachte. An den Tod. Sich fast schon nach ihm sehnte. Als sie in den Sommerferien bei mir für eine Woche übernachtete, sah sie beim Essen ihr Messer immer so komisch an und dann ihre Pulsadern.
„Willst du das wirklich tun?“ fragte ich. „Was?“ war ihre Reaktion, obwohl sie genau wusste, was ich meinte. “ Na, dich…“ sie fiel mir ins Wort. „Vielleicht“ sagte sie schulterzuckend. Meine Augen begannen zu tränen:“Bitte, ich flehe dich an, tu es nicht, Luna. Du weißt doch, dass ich ohne dich aufgeschmissen bin. Ich brauche dich! Ich liebe dich!“
Ich schüttete ihr mein Herz aus. Lange Zeit passierte gar nichts. Ich saß da, starrte sie mit tränenden Augen an und sie starrte an die Wand gegenüber von uns. Bis sie irgendwann aufsprang und aus meinem Zimmer stürzte. „Luna“ rief ich mit leiser, heiserer Stimme. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich auf und lief zur Haustür. Die Haustüre stand noch offen und als ich nach draußen ging, lief Luna gerade um eine Ecke in Richtung ihres zuhause. All ihre mitgebrachten Sachen ließ sie bei mir liegen.
Ich versuchte wochenlang, mit ihr Kontakt aufzunehmen, übers Handy und direkt an ihrer Tür. Aber sie reagierte nicht auf meine Nachrichten und Anrufe und ihre Mutter ließ mich nicht hinein. Ich schrieb ihr auch einen Brief. Ich schaute jeden Tag an ihrem Haus vorbei. Sie stand jedesmal vor dem geschlossenen Fenster und sah mich lange Zeit durch tränende Augen an. Irgendwann ging sie dann immer. Jedesmal hoffte ich, dass sie zu mir herunter käme, aber das passierte nie. Bis es eines Tages anders war.
Wie jeden Tag fuhr ich zu ihrem Haus und sah zu ihrem Fenster hoch. Doch heute war etwas anders: sie stand nicht am Fenster. Sofort lief ich zur Haustür und klingelte Sturm. Als ihre Mutter endlich die Tür öffnete, drängte ich mich an ihr vorbei und lief hinauf zu Lunas Zimmer. Ich schlug die Tür viel zu heftig auf und sie krachte an die Wand. Da lag sie auf dem Bett, regungslos. Neben ihrem Bett auf dem Nachttischchen lag eine leere Packung Schlaftabletten. Außerdem waren all die ausgedruckten und gezeichneten Bilder von all ihren Lieblingsmärchengestalten von der Wand gerissen. Das einzige Bild, welches noch an ihrer Wand hing, zeigte uns beide. Ich war darauf mit meinem Vampirmantel und einem Zylinder zu sehen und sie in ihrem Lieblingskleid mit einer Schleife im Haar. Wir lachten in die Kamera, in die ihres echten Vaters, der diesen wunderschönen Moment festgehalten hatte. Außerdem hingen neben dem Bild noch zwei Briefe. Der eine war von mir und ein zweiter an mich adressiert. Sie hatte meinen Brief gelesen, denn das Papier war gewellt, wahrscheinlich von ihren Tränen. Ich nahm den an mich adressierten Brief von der Wand und steckte ihn in die Tasche meines Vampirmantels. Ich kniete mich neben sie und küsste ihre Stirn. Ihre Mutter kniete auch schon neben ihr und sie suchte unter Tränen nach einem Lebenszeichen. Sie streichelte ihr Haar und flüsterte:“Es tut mir leid, mein Kind. Ich war eine grauenvolle Mutter. Ich wünschte, ich hätte nie gesagt, dass du endlich erwachsen werden sollst. Ich hab deine Märchenwelt doch so geliebt, ich war sogar neidisch.“ Sie gab ihr ebenfalls einen Kuss auf die Stirn und ging. Ich hörte, wie sie mit dem Telefon hantierte und schließlich begann mit jemandem zu reden. Währenddessen legte ich mich neben Luna und nahm sie in den Arm. Ich drückte sie ganz fest an mich und weinte in ihr Haar.
Als der Arzt da war, wollte ich sie nicht loslassen. Der Arzt sagte:“Junge, bitte lass mich meinen Job machen. Ich kann nur erahnen wie schwer dir es fällt sie gehen zu lassen, aber sie hat es so gewollt.“ Ich war wütend auf den Arzt, auf sie und auch auf mich:“Wieso hast du das gemacht?“schrie ich Luna an „Du weißt doch, dass ich dich brauche! Ich habe es dir doch gesagt.“ Und an den Arzt gewandt sagte ich:“Ich hab es ihr gesagt, sie wusste, dass ich sie brauche! Warum war sie so selbstsüchtig? Warum hat sie das getan? Ich hätte doch alles für sie getan.“ Ich weinte vor Wut und Trauer und Verzweiflung und Schmerz. Lunas Mutter kam und zog mich vorsichtig von ihr weg und begleitete mich aus dem Zimmer. Ich ließ es zu. Miss Weiß brachte mich in das Wohnzimmer, drückte mich auf die Couch und rief meine Mutter an. Sie kam sofort vorbei um mich abzuholen. Ich ging nicht, bis ich noch einmal Luna sehen durfte. Ich sagte zu ihr unter Schmerzen :“Es tut mir leid, ich hätte mehr für dich da sein müssen. Du sollst nur wissen, dass ich dich wirklich liebe und dich sehr vermissen werde. Vor allem deine träumerisch grünen Augen.“
Man hatte mich zur Beerdigung eingeladen. Ich ging sogar hin und brachte ihr Lieblingsmärchenbuch, das sie bei mir liegen ließ, und eine gelbe Rose mit. Die Rose verhieß Freundschaft, was wir letztendlich immer waren, und einen Neuanfang. Ich hoffte, dass sie jetzt in einer besseren Welt war und von vorne anfangen konnte.
Ich besuche sie noch immer am Grab und lese ihr Märchen vor. Ich trage immer, wenn ich sie besuche, meinen Vampirmantel und sehe ihr erfreutes Gesicht darüber vor mir. Ich habe das Bild von uns beiden, das bei ihr an der Wand hing, eingerahmt und bei mir aufgehängt. Ich habe auch ihren Abschiedsbrief an mich eingerahmt und aufgehängt. Ich habe geweint, als ich ihn gelesen habe, weshalb die Schrift etwas verwischt ist, aber er ist noch lesbar.
Sie schrieb:
Lieber Levin,
wenn du das liest, werde ich woanders sein. Du weißt schon, in diesem großen, rosa Schloss, von dem ich dir so oft erzählt habe. In der Gruft ruht bestimmt ein Vampirprinz der darauf wartet, dass ich in wach küsse. Er wird diesen tollen Vampirmantel tragen und wunderschöne eisblaue Augen haben, die, wenn sie weinen, sich in eine dunkle, stürmische See verwandeln. Wir werden als Haustier einen Wolf haben und jeden Tag einen Ausritt auf unseren Einhörnern machen, zum Meer, wo wir mit den Selkies schwimmen werden. Bei dieser Vorstellung muss ich weinen und lachen. Ich werde dich sehr vermissen, aber ich weiß auch, dass ich dich bald wiedersehen werde. Aber bitte lass dir Zeit. Lebe ein wunderschönes Leben. Erfülle unsere gemeinsamen Träume und denk oft an mich.
PS.: Ich habe deinen Brief gelesen, wie man sieht, habe ich geweint.
Ich konnte trotzdem nicht mehr leben. Ich brauche eine Märchenwelt, die es auf der Erde nicht gibt.
Hier ist noch ein Stream von meins.orf.at, in dem die ersten fünf Minuten dieser Geschichte von Ursula Strauß im Rahmen der ORF 1 Freistunde gelesen werden.